Someone
Beside You
98 Min,
Color, Dolby Digital, 35mm, 2006, OV CH-German/English
Zusammen mit einigen Psychiatern und deren Klienten bricht der
Film zu einem dokumentarischen Roadmovie durch die Schweiz, Europa
und die USA auf. In Wohnmobilen durchreisen sie die Abgründe
der Psyche und gehen existenziellen Frage nach: Was ist der menschliche
Geist? Wie verhält er sich in psychotischen Extremsituationen?
In den USA begegnet Edgar Hagen dem buddhistischen Mönch
und Psychiater Edward Podvoll. der nur noch wenige Monate zu leben
hat. Seine Vision, dass Mut und Freundschaft die Kraft zur Heilung
von Psychosen haben, ist sein inspirierendes Vermächtnis.
Im Dialog zwischen westlicher Psychologie und östlicher Spiritualität
eröffnet sich, dass auch aus grösster Verwirrung heraus
geistige Klarheit möglich wird.
Statement
des Regisseurs
Wir sind fassungslos, wenn ein Mensch in seinen Grundfesten erschüttert
wird, ausrastet und durchdreht. Unabhängig von Schicht, Alter
und Geschlecht – es kann jedem passieren: Eine lange Beziehung
geht in Brüche, ein Kind stirbt... und plötzlich landen
sogenannt „gestandene Menschen“ auf einer geschlossenen
Station. Das Umfeld ist in diesem Moment meist hilflos und oft
voller Angst. Aber sobald die Krise überstanden ist, wird
wieder verdrängt, was eigentlich passiert ist.
Woher kommt diese Hilflosigkeit? Hat sie vielleicht damit zu tun,
dass wir nicht wissen, was eigentlich passiert, wenn ein Mensch
durchdreht und vor allem, wie er wieder normal wird? Wir wissen
inzwischen sehr viel über Hirnstoffwechsel aber wenig über
den Verstand oder den menschlichen Geist. Wie funktioniert er
und wie verhält er sich in Extremsituationen? Wie kann er
zurückgeholt werden, wenn er abgedriftet ist? Dieser Unsicherheit
und allgemeinen Unwissenheit nachzugehen, war die Herausforderung
dieses Films.
Dieser Film erzählt vom menschlichen Geist, der durch Krisen
hindurchgeht. Dabei geht es mir in erster Linie darum, das allmähliche
Erwachen nach dem geistigen Zusammenbruch darzustellen und nicht,
den Weg in den Wahn hinein zu zeigen. Möglich wurde dies
durch die Fokussierung auf eine neuartige Vision, die aus altem
Wissen eine gewandelte Einstellung zu geistiger Verwirrung und
den Umgang damit ableitet – und das ist letztendlich für
uns alle relevant.
Edgar Hagen.
Hauptpersonen
in Someone Beside You
Edward
Podvoll / Lama Mingyur (1936-2003) Arzt, Psychiater,
Psychoanalytiker und buddhistischer Lama. «Wer einen Verstand
hat, kann ihn auch verlieren», ist eine von Podvolls Grundüberzeugungen.
Als junger Psychiater macht er in der Tradition von Frieda Fromm-Reichmann
(dem Vorbild der Ärztin in „I Never Promised You a
Rose Garden“) schon früh die Erfahrung, dass Psychosen
heilbar sind. Er fasst die Psychose als eine spirituelle Krise
auf, nicht als eine unheilbare Krankheit, wie in vielen traditionellen
Lehrmeinungen behauptet wird. Die Begegnung Podvolls mit dem Tibeter
Chögyam Trungpa Rinpoche in den 70er Jahren und seine Auseinandersetzung
mit buddhistischer Meditation stärkt dieses Vertrauen, dass
Heilung auch aus extremsten Geisteszuständen heraus möglich
ist. Podvoll wird zum Leiter des neuen Instituts für kontemplative
Psychologie an der von Trungpa begründeten Naropa University
in Boulder, Colorado.
Podvoll entdeckt sowohl durch den tibetischen Buddhismus als auch
in gezielten Drogenexperimenten, dass jeder Mensch über einen
gesunden Kern verfügt. Selbst in grösster Verwirrung
ist es möglich, mit ihm in Kontakt zu treten. Diese Entdeckung
ist der Schlüssel zur Heilung und das Fundament zum Windhorse-Projekt,
das Podvoll 1981 in Boulder begründet. Zentral in diesem
Projekt zur Behandlung und Heilung von Menschen in geistigen Extremzuständen
ist auch die Bereitschaft des Therapeuten, seinen eigenen Geist
zu erforschen, die Distanz zu dem Klienten aufzugeben und in völliger
Offenheit in ein authentisches Verhältnis mit ihm zu treten.
1990 zieht sich Podvoll zu einem strikten Retreat in ein tibetisch-buddhistisches
Kloster in Frankreich zurück. Buddhismus ist für ihn
auch hier nie Religion, sondern eine Form von Tiefenpsychologie,
die auf eine 2500jährige Tradition in der Betrachtung des
menschlichen Geistes zurückblickt.
Ende 2002 entschliesst sich Podvoll, inzwischen an Krebs erkrankt,
in die USA zurückzukehren und dort sein Lebenswerk im Umfeld
seiner Schüler im Windhorse-Projekt abzuschliessen. Einige
Wochen vor seinem Tod kommt es im Herbst 2003 zu einer längeren
filmischen Begegnung zwischen Edgar Hagen und Edward Podvoll,
die zu einer Art Vermächtnis wird.
Jakob
Litschig, (55) Arzt, Psychiater und Psychotherapeut in
Zürich. Er hat eigene Psychose-Erfahrungen und verliert aufgrund
eines psychiatrischen Gutachtens 1997 die Lizenz, eine ärztliche
Praxis zu führen. Sein persönliches Engagement gilt
der Suche nach alternativen Ansätzen in der Psychiatrie,
die die Heilungschancen von Psychosen radikal verbessern. Er ist
u.a. Mitbegründer des Verbandes Psychose-Erfahrene Schweiz
(VPECH) und des Psychose-Seminars Zürich, wo Betroffene über
ihre Erschütterungen berichten. Eine wichtige Inspirationsquelle
für seine therapeutische Suche ist die Arbeit von Edward
Podvoll.
In einem Wohnmobil als mobiler Forschungs- und Therapiestation
begleitet Jakob Litschig im Film Kaspar, 49,
Andrea, 27, und Anonymus, 38,
an die Orte, wo deren Psychosen ausbrachen. Jeder von ihnen erfuhr
über viele Jahre hinweg unzählige Einweisungen in psychiatrische
Kliniken.
Was gemeinhin als völlig unfassbares, irrationales Geschehen
– als Wahnsinn – aufgefasst wird, entschlüsseln
sie im Film gemeinsam mit Jakob Litschig. Auf ihrer Reise durch
die Schweiz und Italien entdecken sie, dass sowohl die Extremform
der Gewalt gegen sich selbst als auch gegen Andere zunächst
immer der verzweifelte Hilfeschrei eines Menschen ist, der durch
seine Lebensumstände unter Druck geraten ist.
Karen
(54) lebt in Colorado. Bereits während ihrer College-Zeit
erlebt sie die ersten Psychosen und wird mit 21 Jahren für
drei Jahre in einer renommierten psychiatrischen Privatklinik
in Kansas interniert. Ärzte bescheinigen ihr, dass sie unheilbar
geisteskrank ist. Als Ausweg aus dieser Situation sieht sie nur
die Flucht aus der Klinik. Sie springt aus dem zehnten Stockwerk
eines Hochhauses und überlebt. Als sie später als Klientin
zu Edward Podvoll nach Boulder kommt, ist diese Begegnung die
Initial-Zündung für das Windhorse-Projekt. Gemeinsam
mit Studenten richten sie den ersten „Windhorse-Haushalt“
ein. Karen ist nach wenigen Monaten geheilt und lebt inzwischen
seit vielen Jahren ohne Psychopharmaka ein selbstbestimmtes Leben.
Podvoll widmet Karen ein wichtiges Kapitel in seinem Buch „Verlockung
des Wahnsinns“. Darin erzählt er den aufwühlenden
und faszinierenden Weg zur Heilung, den sie gemeinsam zurücklegten.
Im Herbst 2003 kommt es anlässlich des Besuchs von Edgar
Hagen im Haus von Podvoll nach Jahren zu einer ersten Begegnung
zwischen Karen und Podvoll. Karen entscheidet sich, zusammen mit
dem Regisseur eine filmische Reise zu machen, die sie zurück
an die Orte ihrer traumatischen Erlebnisse führen wird.
Lama
Lhundrup / Dr. Tilman Borghardt (47) ist Arzt und Retreatleiter
im tibetisch-buddhistischen Kloster Dhagpo Kundreul Ling in der
Auvergne, Frankreich. Gemeinsam mit Edward Podvoll war er hier
während drei Jahren in einem strikten Gruppenretreat. Lhundrup
erlebte sowohl als Arzt als auch als Retreatleiter einige Menschen,
die auf ihrer spirituellen Suche Psychosen erfuhren. Wie Podvoll
definiert er Psychosen als einen extremen Zustand des Geistes.
Mit grosser Klarheit über die eigenen Extreme liesse sich
seiner Meinung nach die Tür zur Heilung auch von schwersten
Psychosen und chronisch gewordenen Schizophrenien aufstossen.
Lhundrup: «In der westlichen Tradition ist dieses Wissen
verschüttet; wir sind zutiefst davon entfremdet.»
Lhundrup führt im Film in die Welt der geistigen Selbsterforschung
Podvolls ein und erläutert die neuartige Sichtweise in Podvolls
Ansatz: die Verbindung von westlicher und östlicher Psychologie.
Es geht nicht darum, Menschen zu pathologisieren, sondern sie
auch in schwersten geistigen Krisen darin zu unterstützen,
ihre gesunden Anteile zu entfalten.
Eric
Chapin (51), Psychotherapeut im Windhorse-Projekt in
Boulder, Colorado. Er arbeitete während 13 Jahren in der
forensichen Psychiatrie in El Paso, Texas, und sah sich dort mit
unermesslichem, unbewältigtem Leiden konfrontiert. Ein Artikel
von Edward Podvoll in einer Zeitschrift veranlasst ihn Mitte der
achtziger Jahre, nach Boulder zu reisen und bei Podvoll zu studieren.
Er will von ihm erfahren, wie sich schwerstes geistiges Leiden
– oder Psychose – transformieren lässt. Inzwischen
ist er einer der erfahrensten Psychotherapeuten im Windhorse-Projekt.
Er unterrichtete auch während vielen Jahren als Nachfolger
von Edward Podvoll an der Psychose-Klasse der Naropa University.
Im Film entwickeln Chapin und Podvoll noch in einer gemeinsamen
Veranstaltung ihre neue Auffassung von Psychotherapie.
In seiner Arbeit mit Klienten schreckt Eric Chapin vor keinen
Schwierigkeiten zurück. Das unerschütterliche Vertrauen
in die Gesundheit und Intelligenz seiner teilweise schwerst gestörten
Klienten findet er u.a. in einer durch Podvoll inspirierten Retreat-Praxis,
der er sich in einem alten Schulbus fernab in der Wildnis der
Rocky Mountains regelmässig unterzieht. Von dort aus begleitet
der Film Chapins faszinierenden Alltag, wie er seine Klientin
Susan (51) zuhause besucht, die während
vielen Jahren nicht mit ihm sprechen wollte und im Film nun gemeinsam
mit ihm über Sinn und Zweck ihrer gemeinsamen Sitzungen reflektiert.
Ein weiterer Klient ist Jonathan (47), der 20
Jahre seines Lebens immer wieder in Kliniken eingewiesen wurde
und in Gefängnissen sass und heute in der Lage ist sein Leben
zu reflektieren.
Schliesslich kehrt der Film am Schluss zu Eric Chapins Schulbus
zurück, dorthin wo die Asche von Podvoll seit seinem Tod
im Dezember 2003 in einer kleinen orangen Dose ruht.
Drehorte
von Someone Beside You
Schweiz
Zürich und Umgebung:
diverse Orte sowie Psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli,
Zürich
Italien
Reggio nell Emilia:
Ex-Ospedale Psichiatrico Giudiziario, Reggio nell’Emilia
Genua und ligurische Küste:
diverse Orte
Frankreich
Biollet, Auvergne:
Kloster und Retreat-Zentrum Dhagpo Kundreul Ling
USA
Boulder, Colorado und Umgebung:
diverse Orte sowie Haushalte und Wohnungen von Windhorse Community
Services;
Naropa University, Departement of Contemplative Psychology
Rocky Mountains, Colorado:
diverse Orte sowie Meditations-Räume im Shambala Mountain
Center in Red Feather Lakes
Interstate 70 zwischen Boulder, Colorado und Topeka, Kansas
sowie das Gelände einer ehemaligen Privatklinik und der Jayhawk
Tower in Topeka
Hintergründe
zu Someone Beside You
Psychose: Hochgeschwindigkeit und Aufbrechen von Gegensätzen
Eine von vielen Beschreibungen von Psychose ist die „eines
Traums im Wachzustand“. Andrea, eine langjährige Betroffene,
spricht darüber in Someone Beside You. Der Geist assoziiert
frei wie im Traum bzw. Albtraum. Gerät eine Person unter
extremen Druck, so flüchtet ihr Geist in andere Welten. Stimmen
spielen dabei oft eine Rolle, wobei unter dem Einwirken innerer
Stimmen Selbst- und Fremdbild völlig auseinanderklaffen können.
Man geht heute davon aus, dass fünf bis zehn Prozent der
Menschen Stimmen hören, doch ein weitgehend normales Leben
führen, allerdings kaum darüber sprechen können.
Nur ein Prozent der Menschen wird in Kliniken eingewiesen und
als schizophren diagnostiziert.
Der Film interessiert sich nicht für diese Diagnosen, sondern
vielmehr dafür, was in diesen unfassbaren Momenten geistig
abläuft. Eric Chapin beschreibt im Film, wie sich die Gedanken
einer Person in einem derartigen Zustand beschleunigen oder multiplizieren
und eine Person „wegschwemmen“ können. Podvoll
spricht – in Anlehnung an Henri Michaux – von der
Hochtempo-Ebene des Geistes, die bei allen Menschen immer wirksam
ist und aus den unterschiedlichsten Gründen plötzlich
entgleiten kann. Kaspar beschreibt diesen Vorgang im Film einer
Kernspaltung vergleichbar, in der unglaubliche Energien freigesetzt
werden. In diesen Momenten bricht oft die Kehrseite eines Menschen
hervor: ein bisher unscheinbarer, ruhiger Mensch kann zum Amokläufer
werden. Die Fassungslosigkeit über solche Vorgänge sprengt
ganze Familien und Gemeinschaften.
Angst und Verantwortlichkeit
Das Hauptproblem sind nicht diese Vorgänge selbst, sondern
die kollektive Angst davor. Sie verhindert eine echte Auseinandersetzung
mit unserer gesamtheitlichen Existenz und verbaut damit die einfachsten
Lösungen. Podvoll sieht vor allem die allgemeine Unzulänglichkeit
darin, dass ein hauptsächlich geistiges oder „menschliches“
Problem wie die Psychose mit Mitteln der Körpermedizin behandelt
wird. Der Fokus liegt heute weitgehend auf der „biologischen
Verursachung“ von geistigen Extremzuständen. Die Person,
die in solche Zustände hineingerät, wird zu einem Opfer
dieser Vorgänge. Podvoll geht es letztlich darum, das Individuum
aus dieser Opferhaltung herauszuholen, in die es hineingedrängt
wird, und den Patienten dahin zu lenken, Verantwortung für
die eigenen Erfahrungen, Verhaltensweisen zu übernehmen,
um Heilung zu erlangen.
Windhorse:
Entschleunigung und Heilung
Podvoll machte in halluzinogenen Drogen-Erfahrungen sowie in der
Meditation die Entdeckung, dass es selbst dann, wenn die Hochtempoebene
unseres Geistes ins normale Bewusstsein durchbricht und uns ins
Chaos zu stürzen droht, Ruhe- oder Wachzonen gibt, die er
«Inseln der Klarheit» nennt. Diese ruhigen oder gesunden
Momente gilt es zu erkennen und auszubauen. Im Windhorse-Projekt
baut alles darauf auf. Die Therapeuten trainieren bei sich selbst,
diese gesunden Momente zu eruieren, um überhaupt mit Menschen
in geistigen Extremzuständen arbeiten und deren gesunde Anteile
ansprechen zu können. So können geistige Prozesse in
gemeinsamen alltäglichen Verrichtungen entschleunigt werden.
Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass Therapeuten
ihre angstbesetzte Selbstschutzhaltung aufgeben und sich auf dieselbe
Ebene wie ihre Klienten stellen. Im Idealfall werden hierfür
Menschen in geistigen Extremzuständen in einer Gemeinschaft
von „Gesunden“ integriert, wie das Karen im Film beschreibt.
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