Gespräch
mit Edgar Hagen
«Die
radikale Akzeptanz des Gegenübers»
Sie verzichten in Someone Beside You
auf jede didaktische Note: Kein Off-Kommentar, die Namen der Protagonisten
erfährt man eher nebenbei, die Institution Windhorse wird
nicht erklärt – weshalb?
Ich wollte keine Biographien erzählen, sondern eine universelle
Geschichte, in der es um eine existenzielle Dimension des Mensch-Seins
geht. Die Protagonisten sind in ihrer Problematik – mit
ihren Psychosen – ständig zwischen Leben und Tod hin
und her gerissen sind. Es ging mir darum, Facetten davon zu zeigen.
Die Fragen, die sich im Film stellen, werden durch die Protagonisten
selbst beantwortet. Mögliche Antworten auf diese Fragen gibt
auch der neuartige Arbeitsansatz des Psycho- analytikers Edward
Podvoll. Er hat in einer Art Lebensexperiment erforscht, wie der
Geist funktioniert. Wer bin ich? Was geschieht, wenn jemand den
Verstand verliert? Podvoll hat dies an sich selbst erkundet, er
ging sehr weit auf diesem Weg. Seine Suche oder seine Vision ist
der rote Faden durch den Film. Weitere Protagonisten im Film zeigen
einzelne Aspekte von Psychosezuständen: Sich selbst verlieren,
der rasende Geist, Selbstgefährdung, Fremdgefährdung
– also Suizidversuche und Gewalt gegen Andere – um
nur ein paar zu nennen. Darüber steht die Frage, welche Möglichkeiten
gibt es, diese Zustände wieder in den Griff zu bekommen.
So hat jede Person im Film eine genaue Funktion in diesem Geflecht,
in dem es nicht mehr um Biografien geht, sondern nur noch um Authentizität.
Auch strukturell haben Sie eher unkonventionelle
Wege beschritten: Der Film evolviert langsam um sein Thema –
und erst am Schluss fügen sich alle Puzzleteile zusammen.
Die Montage erinnert somit eher an einen Spielfilm von Atom Egoyan
als an einen klassischen Dokumentarfilm. Wie kam es dazu?
Das Dokumentarische hat meist den Anspruch, einen Ausschnitt aus
dem Ganzen zu zeigen. Spielfilme hingegen haben einen anderen
Anspruch: Eine gut erzählte Geschichte ist universell, überpersönlich,
sie zeigt das Ganze, in dem sich Jede und Jeder wiederfindet.
Ich wollte einen Dokumentarfilm machen, der eine universelle Geschichte
erzählt. Diese Universalität erreicht man nur, wenn
man ganz nahe herangeht. Je näher, desto universeller. Um
diese Nähe zu den betroffenen Protagonisten zu erreichen,
hatte der Film eine sehr lange Vorlaufzeit, damit ich alle Portraitierten
gut kennen lernte – sonst wäre diese Arbeit gar nicht
möglich gewesen. Ich musste genau wissen, was ich von den
Leuten wollte; ich konnte mir keinen Moment lang erlauben, nicht
zu wissen, was ich will, was ich ihnen zumuten konnte.
Ist es Zufall, dass im Film fast alle
Protagonisten mit Mobilehomes unterwegs sind?
Den Verstand zu verlieren, bedeutet eine Art Unbehaustheit. Man
ist weg von Zuhause, vom eigenen Ordnungssystem, wird regelrecht
weggeschwemmt. Wenn Menschen im Leben stark unter Druck kommen,
beginnen sie zu flüchten und an anderen Orten zu suchen –
ich glaube, das kennt jeder. Die Psychose ist letztlich eine Suche
nach einem besseren Leben. Das Auto ist in diesem Zusammenhang
eine filmische Metapher für die Suche, während die Helikopterflüge
den Moment des Abstandnehmens und des Überblicks darstellen.
«Die Psychose ist letztlich eine
Suche nach einem besseren Leben»
Was ist Ihr Thema als Filmemacher?
In diesem Film ist es die Krise. Für mich ist es etwas vom
Spannendsten, Menschen zu sehen, die durch schwere Krisen gehen
und Wege finden, sich wieder aufzurichten. Das ist eine der Grössen
des Menschseins. Bevor ich mit der Recherche zu Someone Beside
You begann, stand ich selber in einer Situation zwischen Leben
und Tod. Als ich meinen letzten Film Zeit der Titanen abgedreht
hatte, ging ich direkt ins Spital für eine grosse Herzoperation.
Der operierende Chirurg sagte mir: «Gehen sie nach Hause,
räumen sie auf, schliessen sie mit ihrem Leben ab, danach
kann ich gut mit Ihnen arbeiten.» Das tat ich – und
es war sehr befreiend.
Generell hat mich diese Dimension der geistigen Erneuerung –
diese intensive Auseinandersetzung mit der Krisenhaftigkeit und
Brüchigkeit – schon immer beschäftigt, aber nach
dieser Erfahrung wollte ich weiter gehen und das Thema ausloten.
Das führte letztlich auch dazu, dass ich mich in diesem Film
nicht herausgenommen habe, sondern mich als Figur selbst einbringe.
Krisen sind oft mit Ängsten verbunden...
Ich selbst hatte zu Beginn der Vorbereitungen grosse Ängste,
dass einzelne Personen während der Dreharbeiten durchdrehen
könnten. Ich fragte mich, was geschieht, wenn tatsächlich
jemand irgendwo runterspringt oder in eine Vollpsychose abrutscht
und beginnt, um sich zu schiessen. Die monatelangen Vorbereitungsarbeiten
führten dazu, dass ich diese Angst ablegen konnte. Genau
diese Angst hält davon ab, mit diesen Menschen in Kontakt
zu treten. Insofern thematisiere ich auch die Überwindung
von Ängsten. Dies wollte ich in diesem Film zuspitzen...
Mit Karen in das Hotel zu gehen, von dem sie sich aus dem Fenster
stürzte – das ging schon sehr weit. Wir hatten diese
Reise unzählige Male durchdiskutiert und alle Eventualitäten
besprochen. Nach langem Ringen entschloss sich Karen schliesslich,
diese Konfrontation zu riskieren. Durch ihren Mut und ihre Reflektion
wird es glaubwürdig, dass Heilung möglich ist.
Eine ähnliche Reise haben Sie ja
bereits in einem früheren Film unternommen: Auch mit der
Autorin und Psychose-Betroffenen Dorothea Buck sind Sie in Ihrem
Film Vom Wahn zum Sinn an den „Ort des Wahnsinns“
gefahren. Sie sagt in jener Sequenz ganz klar, dass jeder selbst
wissen müsse, ob eine Reise dorthin möglich sei...
Auch Dorothea Buck kannte ich sehr lange, bevor ich einen kurzen
Portraitfilm über sie machte. Ohne sie hätte ich Someone
Beside You nicht drehen können. Durch sie begriff ich, was
es bedeutet, wenn jemand in die Mühlen der Psychiatrie gerät.
Ich erfuhr ebenfalls, was es bedeutet, durch eine Psychose zu
gehen und die Stigmatisierung zu erfahren. Diese Art der Ausgrenzung
ist zugleich die totale Verdrängung der Tatsache, dass wir
alle jederzeit in extreme Krisenzustände geraten können.
Durch die langjährige Reflexion von Dorothea Buck, die anhand
ihrer Erfahrungen auch die kollektive Verdrängung thematisiert,
fragte ich mich: Was geschieht mit jemandem, der den Verstand
verliert? Eine weitere Ausgangsfrage war: Wie ist es möglich,
mit Menschen, die akut durch eine Psychose gehen, einen Film zu
drehen?
«Die Ausgrenzung ist die totale Verdrängung,
dass wir alle jederzeit in extreme Krisenzustände geraten
können»
Wie sind Sie auf die Arbeit von Edward
Podvoll gestossen?
Der Psychiater Jakob Litschig in Zürich, eine der Hauptpersonen
im Film, erzählte mir von seinem neuen Ansatz. Ich lernte
Litschig anlässlich einer Präsentation des Films über
Dorothea Buck kennen. Als ich ihn traf, erkannte ich, dass ich
mit ihm ein langjähriges Projekt über Psychosen realisieren
könne. Denn er hat keine Angst vor diesen Begegnungen, sondern
geht direkt in die Beziehungen mit Psychose-Erfahrenen und beschäftigt
sich angstfrei und sehr reflektiert mit der Problematik. Er hat
ausserdem enormes Wissen und Überblick. Durch ihn bin ich
auf Podvolls Ansatz, auf seine Systematik und Logik gestossen.
Podvoll selbst war zu jenem Zeitpunkt seit 12 Jahren im Retreat
in einem buddhistischen Kloster. Ende 2002 kam er todkrank aus
dem Kloster, in der Hoffnung auf Heilung, aber letztendlich zum
Sterben. Zwischen dem Verlassen des Retreats und seinem Tod lag
ein Jahr. Die Arbeit bekam folglich eine Dringlichkeit. Wir trafen
uns drei Monate vor seinem Tod zum ersten Mal und zwei Wochen
vor seinem Tod machten wir die letzten Aufnahmen.
Diese spezielle Situation führte dazu, dass ich die Geschichte
von zwei Polen her angehe: der europäische Teil des Films
ist die Betrachtung des Problems, während der amerikanische
Teil Lösungswege daraus aufzeigt.
Eine Szene des Films ist eindrücklich:
Edward Podvoll und der Therapeut Eric Chapin sind im Gespräch
mit Studenten. Chapin erzählt, wie der Geruch einer duftenden
Linsensuppe auf dem Herd den weit abgedrifteten Geist eines Klienten
zurückholen kann. Ein Student fragt verunsichert, ob er denn
in einer therapeutischen Sitzung einen Topf Linsensuppe aufstellen
solle. Diese Szene konsequent zu Ende gedacht, würde ja das
Ende der Psychoanalyse bedeuten...
Edward Podvoll war sowohl Psychiater als auch Psychoanalytiker
in der Tradition von Frieda Fromm-Reichmann – die das Vorbild
für die Ärztin in Joanne Greenbergs verfilmtem Klassiker
"I Never Promised You a Rose Garden" war. Sie behandelte
Psychose und Schizophrenie auf psychoanalytischem Weg. Podvoll
ging durch diese Schule und war als Therapeut erfolgreich. Die
Begegnung mit dem Buddhismus aber führte zu einer totalen
Erneuerung seiner Arbeit. Er konnte die Ursachenforschung beiseite
legen. Der Mönch Lama Lhundrup erklärt dies im Film,
dass der Psychiater die Symptome behandelt, der Analytiker nach
den Ursachen forscht, und der Dharma-Praktizierende nach einer
gesunden Qualität sucht – nach dem Potential, das unter
dem Leid verborgen ist.
Dieser Ansatz ist auch therapeutisch, aber der praktische Umgang
damit kann sich beispielsweise darin ausdrücken, dass der
Therapeut zusammen mit den Patienten die Wohnung putzt. Es findet
ein Paradigmenwechsel statt: Die Vision ist die Auflösung
der hierarchischen Struktur zwischen Therapeut und Klient.
«Die Vision ist die Auflösung
der hierarchischen Struktur zwischen Therapeut und Klient»
Wie entstand Windhorse, und was ist
das Spezielle daran?
Im Film ist Windhorse ein mögliches Modell. Windhorse ist
noch nicht sehr verbreitet. Es gibt nur ein paar Zentren, zwei
davon in den USA, eines in Wien, eines entsteht gerade in Deutschland.
Zürich ist mehr ein pragmatischer Versuch Windhorse umzusetzen.
Ein Fundament dieses Behandlungsansatzes ist die Meditation. Sie
ist Bestandteil des Trainings für die Therapeuten. Was für
Psychoanalytiker die Lehranalyse ist, ist für Windhorse-
Mitarbeitende das Retreat – die Selbsterforschung. Es geht
darum, sich selbst auszuhalten, sich selbst zu erforschen –
also eine Art der Selbsterkenntnis, die im Buddhismus eine lange
Tradition hat.
Es geht in keiner Weise darum, den Buddhismus zu glorifizieren.
Podvoll erkannte, dass es im System der institutionellen Psychiatrie
nicht möglich gewesen wäre, andere Wege zu beschreiten.
Im Buddhismus fand er hingegen ein anerkanntes Umfeld, seine Vision
umzusetzen. Es war der Tibeter Chögyam Trungpa Rinpoche,
der Gründer des Naropa-Instituts in Boulder, der Podvoll
dazu anhielt, diesen Weg zu gehen. Naropa war zu jener Zeit in
den USA ein Schmelztiegel der Intellektuellen, die sich für
östliche Philosophie interessierten. Chögyam Trungpa,
dessen Bücher mittlerweile in viele Sprachen übersetzt
sind, bat Podvoll in den 70er Jahren, an der Naropa University
die Abteilung für Psychotherapie aufzubauen. Später
gehörten Podvolls Studenten an der Naropa Universität
zu den Mitbegründern von Windhorse, das in Boulder einen
fruchtbaren Boden fand. Begüterte Familien suchten nach humaneren
Behandlungsmöglichkeiten für ihre Familienangehörigen
und unterstützten Podvolls Arbeit. Mittlerweile ist Windhorse
in Colorado und Neuengland so etabliert, dass sich die ambulanten
Dienste der institutionellen Psychiatrie an Windhorse wenden.
«Wie widersteht man der Verlockung des Wahnsinns?»
Wie äussert sich der buddhistische
Weg bei der Behandlung von Psychosen?
Bei meinen Recherchen haben mir sämtliche Psychiater geraten,
mich im Gespräch mit Psychotikern nicht auf Inhalte einzulassen.
Denn sobald der Geist unter Druck kommt, beginnt er zu rasen –
ein Gedanke, zwei Gedanken, 1000 Gedanken. Die Geschwindigkeit
dieses Vorgangs reisst dem Patienten den Boden unter den Füssen
weg. Ein ungeschultes Gegenüber hat hierbei keine Chance
und wird leicht mitgerissen. Die buddhistische Haltung zeigt sich
darin, dass man sich auf jemanden einlassen kann, ohne auf dessen
Inhalte einzugehen. Die Frage ist, wie man den ganzen Menschen
wahrnehmen kann, ohne ihm in jedem Detail zu folgen. Oder anders
gesagt: Wie widersteht man dem, was Podvoll «Die Verlockung
des Wahnsinns» nannte? Es geht um eine radikale Akzeptanz
des Gegenübers, ohne sich auf jede Verästelung des rasenden
Geistes einzulassen.
Deshalb heisst das Gegenrezept bei Podvoll und Windhorse auch
gemeinsame Spaziergänge, Kochen, Putzen und Aufräumen
der Wohnung. Denn Unordnung kann bereits ein Abdriften auslösen.
Es geht folglich um ganz banale Dinge des Alltags – sozusagen
um ein Grounding im positiven Sinn.
Das
Gespräch führte Franziska K. Trefzer, Filmjournalistin
|